WE ACT – Theater zwischen Zelle und Zukunft

Seit Juni freut sich das ALTE VOLKSBAD über neue Mieterinnen. Anna und Nathalie von freikreathur im Interview

Was passiert, wenn Theaterpädagogik auf Haftalltag trifft? Anna Timme und Nathalie Veit von freikreathur bringen kreatives Empowerment dorthin, wo es kaum jemand erwartet: hinter Gefängnismauern. In ihrem Theaterprojekt arbeiten sie mit Inhaftierten an biografisch inspirierten Stücken – ohne Urteil, aber mit großer Offenheit. Im Interview erzählen sie, wie sie zueinander gefunden haben, warum sie nie nach den Straftaten fragen, was sie an der Arbeit im Gefängnis besonders bewegt – und warum sie sich keinen anderen Job mehr vorstellen können.

Woher kennt ihr euch und wie kamt ihr auf diese Idee?

Nathalie: Nach der Schule habe ich ein Jahr als Dramaturgie- und Regieassistentin gearbeitet und Germanistik sowie Soziologie studiert. Währenddessen habe ich eine Theaterpädagogik-Ausbildung gemacht, wo ich auch das Theater in Gefängnissen kennengelernt habe – das fand ich sofort spannend. Kriminologie war schon immer so eine Art Hobby, seit ich ein Teenager war. In der Ausbildung traf ich Anna, und wir beschlossen, zusammen selbstständig zu werden.

Anna: Ich bin 33, habe vor der Ausbildung Film- und Theaterwissenschaften studiert und mich auf die Arbeit mit ausgegrenzten Gruppen spezialisiert, z.B. mit Migranten, Geflüchteten und Jugendlichen. Außerdem war ich in einem Projekt gegen Rassismus mit Grundschulkindern tätig.

Wann habt ihr Freikreathur gegründet?

Nathalie: Eigentlich schon 2019, aber dann kam Corona und hat unsere Pläne durchkreuzt und wir haben einzeln weitergearbeitet. Anfang 2023 haben wir unsere Zusammenarbeit wieder intensiviert und im September 2024 offiziell gegründet.

Wie kam es so schnell zu Gefängnisprojekten?

Anna: Schon während der Ausbildung konnten wir unser erstes Theaterprojekt in der JVA Ludwigshafen durchführen.

Nathalie: Im Rahmen dessen hatten wir Kontakt zu einer erfahrenen Theaterpädagogin, die uns 2023 dann das Projekt in der JVA Bruchsal übergab. Von dort aus ergaben sich weitere Kontakte zu anderen Haftanstalten.

Wie funktioniert das im Gefängnisalltag? Ist das ein freiwilliges Angebot?

Anna: Ja, das Angebot ist komplett freiwillig. Die Inhaftierten können selbst entscheiden, ob sie teilnehmen möchten oder nicht. Sobald sie verstehen, worum es geht, ist das Interesse im Allgemeinen sehr groß, wobei die Plätze begrenzt sind. Beim ersten Projekt in Bruchsal starteten wir mit zwölf Teilnehmenden, anfangs waren es sogar fünfzehn. Manche scheiden aus, z.B. durch Entlassung. Am Ende führten wir mit neun auf, einer wurde per Video eingebunden.

Nathalie: Meistens gibt es mehr Anmeldungen als Plätze, etwa 20 bei 15 Plätzen. Bei den Jugendlichen ist es fast noch krasser gewesen, was wir selbst nicht erwartet hätten. Aber sie haben auch Vorteile, wenn sie sich bei uns anmelden, weil sie eine gewissen Anzhal aller Angebote in ihrem Vollzugsplan wahrnehmen müssen. Und Theater ist vielleicht schon cooler als etwas zu basteln. 

Wir wollen im Vorfeld nicht wissen, für was die Menschen, mit denen wir arbeiten verurteilt wurden.
Anna & Nathalie

Was für Stücke probt ihr denn? Ist das vorgegeben, oder ergibt sich das?

Nathalie: Grundsätzlich arbeiten wir so, dass wir so offen wie möglich in die Gruppen gehen, um dann gemeinsam ein Stück zu entwickeln. Wir fangen mit Gruppenbildung und auch Schauspieltechniken an, und finden dann raus, was für ein Thema uns als Gruppe wirklich interessiert. Dann arbeiten wir dazu mit Schreibwerkstätten, mit Mitteln des biografischen Theaters, weil es schon darum geht,  dass der Inhalt es Stückes nah möglichst nah am Leben der Teilnehmenden ist. Die Inhaftierten schreiben Texte, wir machen Improvisationen, schreiben immer mit, und am Ende basteln wir  alles gemeinsam zu einem Stück zusammen. 

Anna: In dem Stück, was wir im ersten Jahr gemacht haben, ging es zum Beispiel darum, wie so ein Alltag in Haft aussieht und wo man trotzdem auch im Gefängnis, Glück finden kann. 

Nathalie: Dazu hatten wir eine Schreibwerkstatt gemacht mit dem Satz "Als die Zellentür zum ersten Mal hinter mir zuschlug..." Jeder aus der Gruppe konnte seine individuellen Gedanken und Gefühle zu diesem Moment aufschreiben. Das war sehr spannend.

Wegen was sitzen die Häftlinge ein? Sind das eher kürzere Haftstrafen oder habt ihr auch verurteilte Mörder mit dabei? 

Nathalie: Grundsätzlich haben wir von allen Stationen Leute dabei und ja, auch einige, die wegen Kapitalverbrechen zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt sind. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass wir das sehr bewusst vorher nicht erfragen, auch wenn wir natürlich mitbekommen, von welchen Stationen sie kommen. Viele sprechen allerdings im Laufe des Arbeitsprozesses von ihrer Tat. Wir gehen aber immer "blank" rein, weil wir vermeiden wollen, dass wir die Menschen als ihre Staftat sehen. Wir machen diesen Job ja gerade, um eben das nicht zu tun. 

Anna: Schon im Zuge unseres ersten Projektes während der Ausbildung in Ludwigshafen haben wir krass wertschätzend zurückgemeldet bekommen, dass wir eben nicht danach gefragt haben und es als sehr respektvoll empfunden wurde, dass das eben bei der Arbeit in der Theatergruppe eben nicht im Vordergund steht. 

Wenn man es dann doch erfährt, kann man Tat und Mensch trennen? 

Nathalie: Also für mich spielt es keine Rolle, auch wenn es Momente geben kann, in denen man an seine Grenzen kommt. Also, mir ist das bisher einmal passiert. Es war so, dass ich erfahren habe, welche Straftat diese Person begangen hatte – und ich konnte das zunächst nicht mit dem Menschen in Einklang bringen, den ich kennengelernt hatte. Das war psychisch ziemlich herausfordernd, beides zusammenzubringen und diesen Menschen wiederzusehen. Aber es ist mir gelungen. Und ich glaube, das war der befreiendste Moment, den ich in meiner Arbeit bisher erlebt habe. 

Und indem sie ihre eigenen Erlebnisse verfremdet auf die Bühne bringen, entsteht Distanz. Man sieht sich selbst von außen – das ist ein sehr kraftvoller Moment.
Anna Timme von freikreathur

Impressionen der gemeinsamen Theaterarbeit

Was ist das Spannende an der Arbeit mit Häftlingen? Ihr könntet als Theaterpädagogen ja auch entspannt mit Kindern arbeiten. 

Nathalie: Im Theater geht es darum, dass sich Menschen begegnen und ihre Geschichten erzählen. Besonders interessant an unserer Arbeit ist, gerade wenn man biografisch arbeitet, was ja unser Ansatz ist, dass unsere Teilnehmenden natürlich interessante Biografien haben, die Grenzerfahrungen beeinhalten. 

Anna: Und natürlich gibt es den ideellen Wert. Wir machen genau diese Arbeit, weil wir sie sinnvoll finden und wir das Gefühl haben, wirklich etwas zu bewirken. Also genau die Dinge, die wir in der Ausbildung gelernt haben und jetzt umsetzen können. 

Was kann Theaterpädagogik und Schauspielerei in diesem Kontext leisten? 

Nathalie: Sie kann Menschen das Gefühl geben, dass sie die Regie über ihr eigenes Leben führen können. Dass sie einen anderen, kreativen Zugang zu ihren Emotionen finden. Dass sie ihre Gefühle, Gedanken und Meinungen kreativ bearbeiten und in einem völlig anderen Kontext – etwas distanzierter von sich selbst – auf die Bühne bringen können. Dadurch findet eine Reflexion statt. In dem Moment, in dem man eigene Erlebnisse verfremdet und auf die Bühne bringt, sieht man sie von außen plötzlich ganz anders. Darüber hinaus ist es auch ein wichtiger Schritt, dem Ganzen eine Sprache zu geben – insbesondere für eine Personengruppe, die nur wenig Möglichkeiten hat, sich mitzuteilen, Kritik zu äußern oder einfach von sich zu erzählen, weil sie durch bestehende Strukturen oft nicht gehört wird.

Anna: Für diese Menschen ist es ein Moment des Empowerments: die Möglichkeit, ihre Themen auf der Bühne sichtbar und hörbar zu machen.

Die Menschen mit denen wir abeiten gehören zu einer Personengruppe, die nur wenig Möglichkeiten hat, sich mitzuteilen, Kritik zu äußern oder einfach von sich zu erzählen, weil sie durch bestehende Strukturen oft nicht gehört wird.
Nathalie

Habt ihr schon echte Schauspiel-Telente in euren Programmen gehabt? 

Nathalie: Auf jeden Fall! Auch im Vergleich zu anderen Gruppen ist da schon sehr viel Talent vorhanden. Das liegt auch daran, dass junge Menschen im Jugendknast im Vergleich zu gleichaltrigen Gymnasiasten, oft mehr erlebt haben und oftmals auch der Umstände wegen, unter den sie aufgewachsen sind, ein "Alter-Ego" entwickelt haben. Gerade bei Jugendlichen ist Schauspiel manchmal eine Überlebensstrategie. Das ist, glaube ich, ein wesentlicher Punkt. Sie wissen in dem Moment nicht unbedingt, dass sie eigentlich schauspielern, aber sie haben das Talent. Sie checken die Tools, sobald sie sie kennenlernen.

Anna: Und was ich besonders bemerkenswert finde: Viele Menschen in Haft spüren ihre Impulse stärker und gehen ihnen eher nach als Menschen draußen. Und genau das ist für kreative Arbeit total wichtig. Wenn im Gymnasium mit 17-jährigen Jugendlichen arbeitet, dann machen viele einfach nichts. Sie sagen einem genau das, was sie denken, das man hören will. Aber in Haft bekommt man Menschen, die einem ungefiltert sagen, was sie wirklich denken. Und das ist spannend.

Wenn ich Abends ins Bett gehe, weiß ich, dass ich niemals wieder was anderes machen möchte.
Nathalie Veit von freikreathur

Sechs Projekte dieser Art habt ihr schon gemacht. Was habt ihr noch vor?

Nathalie: Wenn die Förderanträge durchgehen - ich klopfe mal auf Holz, wie man das im Theater so macht - dann starten wir im September mit "Was ihr wollt" von Shakespeare - wieder in der JVA Bruchsal. Es geht dabei um den Rollenwechsel - vom Menschen in die Rolle. Was passiert dabei mit den Menschen?

Anna: Und bald, wenn wir das Geld bekommen, starten wir auch mit einem Projekt mit ehemaligen Inhaftierten. Dann wären auch normale Aufführungen mit Ticketverkauf möglich. Das Projekt soll WE ACT heißen und beeinhaltet, dass wir mit zwei ehemaligen Inhaftierten ein Theaterstück entwickeln, auf Basis ihrer Biografien, zum Thema Handlungsfähigkeit im Kontext von Gewalt und Straffälligkeit. Mit diesem Klassenzimmer-Theaterstück wollen wir dann in Schulen gehen und es mit einem gewaltpräventiven Workshop koppeln.

Wohin soll eure Reise gehen? 

Nathalie: Also ich wünsche mir in fünf Jahren, dass wir mindestens zwei Arbeitsplätze für ehemalige Inhaftierte schaffen können, die auch festangestellt sind und von uns entsprechend bezahlt werden können.

Anna: Ich wünsche mir, dass unsere Projekte in Bruchsal, Schifferstadt, Ludwigshafen und dieses Präventionsprojekt fest etablierte Projekte sind, die wir kontinuierlich weiterführen können. Und dass wir nicht nur für unsere theaterpädagogische Arbeit bezahlt werden, sondern auch für unsere Geschäftsführertätigkeiten.  Also dass wir ein angemessenes Gehalt dafür bekommen,  dass wir Geschäftsführer von unserem eigenen Unternehmen sind.

Warum ist das genau der Job, den ihr machen möchtet? 

Nathalie: Also für mich macht es das zu dem richtigen Beruf für mich, weil es sich wie mein natürlicher Zustand anfühlt und ich das Gefühl habe, meine Berufung gefunden zu haben.  Und wenn ich Abends ins Bett gehe, weiß ich, dass ich niemals wieder was anderes machen möchte.

Anna: Mir geht es genauso! Es ist großartig und sinnstiftend, auf verschiedenen Ebenen etwas erreichen zu können. Persönlich, bei den Menschen mit denen wir arbeiten und gleichzeitig auf gesellschaftlicher Ebene den Diskurs und bestenfalls das Klima in den Anstalten zu verändern.